In Self-X-Systemen treffen intelligente Agenten autonom Entscheidungen, die nicht nur den Zustand des cyber-physischen Systems verändern, sondern auch Auswirkungen auf die menschlichen Nutzer:innen haben können. In unseren Arbeiten zu digitalisierten Energiesystemen überwacht und steuert ein einzelner Agent in der Regel eine individuelle dezentrale Energieanlage – etwa einen Batteriespeicher, eine Wärmepumpe oder die flexiblen Lasten eines Haushalts – oder ein einzelnes steuerbares Element des Energiesystems – etwa eine regelbare Ortsnetzstation oder einen Leistungsschalter im Verteilnetz. Übergeordnete Ziele, wie beispielsweise die maximale Nutzung lokaler Einspeisung aus erneuerbaren Energieanlagen oder die Einhaltung vorgegebener Spannungsgrenzen im Stromnetz, verfolgen die Agenten in kooperativer Weise als selbst-organisierender Schwarm. Dabei verhandeln die Agenten im Schwarm eigenständig untereinander, welchen konkreten Beitrag zum übergeordneten Ziel sie unter Berücksichtigung ihrer lokalen Ziele und Nutzerpräferenzen leisten können und möchten.
Für die gesellschaftliche Akzeptanz hochgradig autonom agierender Systeme ist es gerade auch in der Energieversorgung unerlässlich, dass die Nutzer:innen dem System Vertrauen entgegenbringen können. Vertrauen in technische Systeme hat dabei eine Vielzahl von komplexen, sozio-technischen Facetten. In unserer Arbeit widmen wir uns insbesondere den Aspekten der Erklärbarkeit von Entscheidungen, der Datensparsamkeit in der schwarmbasierten Optimierung sowie der Nachweisbarkeit wünschenswerter Systemeigenschaften, um den Anforderungen und Bedürfnissen der menschlichen Nutzer:innen vertrauenswürdig gerecht werden. Dabei arbeiten wir intensiv mit der Abteilung Energieinformatik sowie der Abteilung Digitalisierte Energiesysteme der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg zusammen.
Ein Netzagent entscheidet in einer kritischen Situation, einen bestimmten Netzabschnitt vom Netz zu trennen und so hunderte Haushalte von der Stromversorgung abzuschneiden. Ein Batteriespeicherschwarm entscheidet zu einem ungünstigen Zeitpunkt, die Speicher voll zu beladen, wodurch den Speicherbesitzern kurzfristig wirtschaftliche Nachteile entstehen. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob die Entscheidungen und die daraus folgenden Handlungen der Agenten gerechtfertigt waren (um z.B. größere Schäden im Stromnetz zu vermeiden), oder ob es sich um eine Fehlentscheidung – oder sogar Fehlfunktion – des Systems gehandelt hat. Gerade in Self-X-Systemen, die ohne eine übergeordnete, zentrale Kontrollinstanz auskommen, ist die Beantwortung dieser Frage nicht einfach.
Der hochaktuelle Forschungszweig der Explainable Artificial Intelligence (XAI) beschäftigt sich intensiv damit, die Entscheidungen von individuellen Agenten, die auf dem Einsatz neuronaler Netze basieren, erklären zu können. Aufbauend auf diesen Arbeiten, denen sich auch die Gruppe Power Systems Intelligence des Bereichs Energie im OFFIS widmet, untersuchen wir die Möglichkeit, kollektives Schwarmverhalten zu erklären. Dabei wirken möglicherweise hunderte von Einzelentscheidungen in emergenter Weise zusammen: Die global wahrnehmbare Entscheidung und das global beobachtbare Verhalten eines Self-X-Systems setzen sich aus den lokalen Entscheidungen und dem lokalen Verhalten der individuellen Agenten und deren Zusammenwirken zusammen. Dabei stehen wir mit der Beantwortung der Frage, wie das Verhalten eines Self-X-Systems erklärt werden kann, noch ganz am Anfang. Erste konzeptuelle Ansätze basieren auf der Nutzung eines externen Beobachters im Sinne des Observer-Konzepts aus dem Organic Computing; langfristig soll das Self-X-System aber ganz im Sinne der Selbstorganisation in die Lage versetzt werden, eigenständig transparente und nachvollziehbare Erklärungen für sein Verhalten und seine Entscheidungen erzeugen zu können.
Verteilte Algorithmen und Koordinationsverfahren in Agentensystemen basieren häufig auf Konsensbildung. Um zu einer Übereinkunft über gemeinsame Handlungen zu kommen, senden sich die Agenten Nachrichten mit unterschiedlichen Handlungsoptionen zu. In einem energetisch zusammengeschlossenen Smart-City-Quartier oder in einem virtuellen Kraftwerk mit verschiedenen individuell betriebenen Anlagen werden beispielsweise Informationen über unterschiedliche Stromerzeugungs- oder –verbrauchsprofile ausgetauscht. Oft sind auch Daten über Preise oder Kosten erforderlich. Solche Informationen können aggregiert und mit geeigneten Methoden der Künstlichen Intelligenz weiterverarbeitet werden, um zumindest näherungsweise Daten über interne Strukturen und (Geschäfts-) Prozesse abzuleiten.
Diese datenschutzrechtliche Problematik haben wir bereits für Betriebs- und Arbeitszeiten durch Auswertung von Heizprofilen, Maschinenauslastung und individuell mit dem Versorgen verhandelte, zeitvariable Tarife zeigen können. Analog lassen sich etwa auch die Anwesenheitszeiten in Privatwohnungen ermitteln. Verteilte Agentensysteme werden langfristig nur dann Akzeptanz erlangen, wenn private Daten – insbesondere sensible Geschäftsdaten – entweder für die Erfüllung der Koordinationsaufgabe nicht verwendet oder zumindest nicht offengelegt werden müssen. Hierzu entwickeln wir Ansätze zur verschlüsselten Optimierung, welche die Privatsphäre wahren: Entweder werden nur von anderen Agenten nicht entschlüsselbare Daten offenbart und Berechnungen direkt auf den verschlüsselten Daten ausgeführt, oder die Verfahren arbeiten nach dem Secret-Sharing-Prinzip, bei dem kein Agent alleine vollständige Informationen besitzt und Berechnungen nur gemeinsam verteilt durchgeführt werden können. Hierzu müssen die verwendeten Agentenprotokolle geeignet angepasst werden. Die größte Herausforderung ist dabei, eine hinreichende Performanz in der Lösung der Koordinationsaufgabe zu wahren.
Der Nachweis von Eigenschaften eines Self-X-Systems ist wünschenswert und insbesondere für den Einsatz in kritischer Infrastruktur notwendig. Hier kann zwischen funktionaler und formaler Verifikation unterschieden werden. Funktionale Verifikation versucht den Nachweis zu erbringen, dass ein System eine bestimmte Spezifikation erfüllt. Dieser Nachweis kann mit verschiedenen Mitteln, z.B. Tests, Simulation, oder formaler Verifikation erbracht werden. Formale Verifikation ist der Beweis der Korrektheit des Systems durch mathematische Methoden.
Self-X-Systeme haben häufig Eigenschaften, die für die üblichen Techniken der formalen Verifikation große Herausforderungen darstellen. Dazu zählen ein hoher Grad von Dezentralität, asynchrone Interaktionen, dynamische Anpassungen der Systemstruktur zur Laufzeit, der Zusammenschluss verschiedenartiger Anlagen sowie üblicherweise die Nutzung heuristischer Optimierungsverfahren. Das Kernproblem ist meistens, dass der zu untersuchende Zustandsraum schnell zu groß wird, um Ergebnisse berechnen zu können (eine sogenannte „state space explosion“).
Zum Umgang mit einer oder mehrerer dieser Eigenschaften wurden in den letzten Jahre verschiedene Verfahren entwickelt, die z.B. den erlaubte Zustandsraum über eine Funktion abbilden oder die Agenten eines Schwarmsystems formal zu einem Gesamtsystem aggregieren. Wir arbeiten daran, ähnliche Methoden für die in Energiesystemen notwendigen Beschränkungen zu entwickeln, effektiv nutzbar zu machen und so Vertrauen in eine zukünftige dezentrale Energieversorgung zu schaffen.
E-Mail: benjamin.giesers(at)offis.de, Telefon: +49 441 9722-747, Raum: Flx-E
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E-Mail: martin.troeschel(at)offis.de, Telefon: +49 441 9722-150, Raum: Flx-E
Dezentraler Redispatch (DEER): Schnittstellen für die Flexibilitätsbereitstellung
Laufzeit: 2022 - 2025
National Research Data Infrastructure for the Interdisciplinary Energy System Research
Laufzeit: 2023 - 2028
Resilienz im digitalisierten Stromsystem: Toolbox zur Bewertung von Systemdienstleistungsmärkten
Laufzeit: 2022 - 2024
WärmewendeNordwest – Digitalisierung zur Umsetzung von Wärmewende- und Mehrwertanwendungen für Gebäude, Campus, Quartiere und Kommunen im Nordwesten
Laufzeit: 2021 - 2025Körner, Marc-Fabian and Nolting, Lars and Heeß, Paula and Schick, Leo and Lautenschlager, Jonathan and Zwede, Till and Ehaus, Marvin and Wiedemann, Stefanie and Babel, Matthias and Radtke, Malin; 2024
Emilie Frost and Malin Radtke and Marvin Nebel-Wenner and Frauke Oest and Sanja Stark; SoftwareX; 2024
Malte Stomberg; Martin Tröschel; ACM SIGENERGY Energy Informatics Review; October / 2024
Radtke, Malin and Lehnhoff, Sebastian; European Simulation and Modelling Multiconference (ESM '24); Oktober / 2024
Sager, Jens and Schrage, Rico; Journal of Open Source Software; October / 2024
Rico Schrage and Jens Sager and Jan Philipp Hörding and Stefanie Holly; SoftwareX; 2024
Malin Radtke; ACM SIGEnergy Energy Informatics Review; Oktober / 2024
Schrage, Rico and Tiemann, Paul Hendrik and Niesse, Astrid; SIGENERGY Energy Inform. Rev.; feb / 2023
Lesnyak, Ekaterina and Belkot, Tabea and Hurka, Johannes and Hörding, Jan Philipp and Kuhlmann, Lea and Paulau, Pavel and Schnabel, Marvin and Schönfeldt, Patrik and Middelberg, Jan; Big Data and Cognitive Computing; 2023
Frauke Oest, Emilie Frost, Malin Radtke, Sebastian Lehnhoff; ACM SIGENERGY Energy Informatics Review; 03 / 2023