In einem Stromsystem, das mit erneuerbaren Energien versorgt wird, müssen alle PV- und Windkraftanlagen, Batteriespeicher und Elektroautos, intelligente Verbraucher und viele weitere Anlagen gemeinsam die Versorgung unterstützen. Dafür müssen sie sich so verhalten, dass Erzeugung und Verbrauch immer im Gleichgewicht sind und Strom und Spannung überall im Netz nicht zu groß oder zu klein werden. Dass die Anlagen dabei zu unterschiedlichen Zeiten Energie in ganz verschiedenen Mengen aufnehmen oder abgeben können, wird als Flexibilität bezeichnet. Um sie alle so zu steuern, dass sie das Ziel einer sicheren, erneuerbaren Stromversorgung unterstützen, sind Modelle erforderlich, die die Komplexität des Gesamtsystems abbilden können.
Das Thema Flexibilitätsmodellierung und -optimierung in digitalisierten Energiesystemen beschäftigt uns sowohl auf allgemeiner Ebene, als auch bezogen auf konkrete Anwendungsfälle. Die von uns entwickelte Flexibilitäts-Pipeline beschreibt hierbei den Prozess der Berechnung und Nutzung von Flexibilität von der Integration von Nebenbedingung bis hin zur Steuerung einer Anlage. Dieser Prozess ist in der folgenden Abbildung dargestellt.
Flexibilitäts-Pipeline zur Veranschaulichung des Prozesses für die Berechnung und Nutzung von Flexibilität.
Im ersten Schritt werden hierbei die Nebenbedingungen betrachtet, die berücksichtigt werden müssen. Dies beinhaltet einerseits anlagenspezifische Nebenbedingungen, wie z. B. mögliche Leistungsstufen, maximale Leistungswerte, Anfahrrampen oder Effizienzen. Andererseits müssen die sich aus dem Anwendungsfall ergebenen Nebenbedingungen berücksichtigt werden. Dies betrifft zum Beispiel durchgeführte Handelsgeschäfte auf dem Strommarkt, Peak-Shaving-Grenzen, die eingehalten werden müssen oder spezielle zeitliche Anforderungen aus dem Optimierungsziel.
Auf Basis dieser Nebenbedingungen kann ein Flexibilitätsmodell erzeugt und die Flexibilität berechnet werden. Hierbei gibt es verschiedenste Formen der mathematischen Darstellung von Flexibilität. Die einfachste Darstellung besteht aus einer Reihe von möglichen Fahrplänen einer Anlage. Komplexere Repräsentationen ermöglichen oftmals eine höhere Abdeckung des gesamten Flexibilitätsraums. In einigen Anwendungsfällen ist es notwendig, Flexibilität von verschiedenen Anlagen zu aggregieren, also in kombinierter Form darzustellen. Dies kann je nach gewähltem Flexibilitätsmodell einfach, komplex oder nicht möglich sein.
Auf Basis der berechneten (und ggf. aggregierten) Flexibilität wird bzgl. eines oder mehreren Zielen optimiert. Hierbei kann der Optimierungsprozess für mehre Anlagen sowohl zentral gestaltet sein, als auch voll verteilt und dezentral. Das Ergebnis des Optimierungsprozesses lässt sich ggf. nach einem Disaggregationsschritt in konkrete Steuerungsbefehle für die jeweiligen Anlagen überführen. Mit Disaggregation ist hierbei der Rückschritt von der optimierten aggregierten Flexibilität zum optimierten Einsatzplan der einzelnen Anlagen gemeint.
Mithilfe der Flexibilitäts-Pipeline ist es möglich, verschiedene Anwendungsfälle für die Nutzung von Flexibilität in digitalisierten Energiesystemen genau zu beschreiben und die jeweils am besten geeigneten Flexibilitätsmodelle auszuwählen.
Um Stromspeicher möglichst wirtschaftlich zu betreiben, ist eine Adressierung mehrerer Anwendungsfälle (gleichzeitig oder sequenziell) sinnvoll. In DAI haben wir in verschiedenen Projekten Modelle entwickelt, die solch eine „Multi-Purpose“-Bewirtschaftung umsetzen. Ein Beispiel dafür ist das Flexibilitätsmodell Amplify aus dem Kooperationsprojekt mit der be.storaged GmbH zur Entwicklung eines Batteriespeicherschwarms. Ein anderes Beispiel ist das Projekt FRESH, in dem autonome, batteriebetriebene Schwerlastfahrzeuge im Hamburger Hafen auch zur Bereitstellung von Regelleistung genutzt werden.
Damit Agenten in einem Schwarm von Batteriespeichern ihre Anlagen lokal nutzen und nicht benötigte Flexibilität an einen Aggregator schicken können, wurde das Flexibilitätsmodell Amplify entwickelt. Mit Amplify kann Flexibilität von Batterien sehr schnell berechnet und kompakt ausgedrückt werden. Außerdem können Aggregatoren damit Batteriespeicher auf Basis von abstraktem Modellwissen steuern. Außerdem können durch die integrierte Problemdetektion auftretende Konflikte zwischen den Anwendungsfällen erkannt werden.
Amplify ist auf Pypi als “amplify-model” und Open Source auf Gitlab.com veröffentlicht unter: https://gitlab.com/offis-dai/models/amplify
Im Projekt FRESH wurde ein Flexibilitätsmanagementsystem entwickelt, um die Flexibilität einer Flotte batteriebetriebener Schwerlastfahrzeuge am Hamburger Containerterminal Altenwerder (CTA) für die Stabilisierung der Stromnetze nutzbar zu machen. Dazu wurde die Flotte in ein virtuelles Kraftwerk integriert, und für die Bereitstellung von Primärregelleistung (FCR) genutzt. Die wichtigste Anforderung war, die Transportprozesse des Terminals nicht zu beeinträchtigen. Dafür wurden mit Methoden des maschinellen Lernens Prognosen über den Transportbedarf des Terminals erstellt. Anschließend wurde mit Hilfe einer agentenbasierten Optimierung die Anzahl der Fahrzeuge und Ladestationen ermittelt, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums aus dem Logistikbetrieb entnommen und für FCR genutzt werden können. Das System wurde in einem gut 7-wöchigen Feldtest am Terminal erfolgreich erprobt und evaluiert.
Innerhalb eines Stromnetzes kann Flexibilität für den stabilen Netzbetrieb genutzt werden. Redispatch ist ein Mechanismus, der dies bezüglich Leitungsüberlastungen regelt. Im Projekt Int2Grids wird untersucht, inwieweit die Flexibilität von Quartiersnetzen hierbei unterstützen kann. Ein Quartiersnetz ist hierbei eine räumlich zusammenhängende Gruppierung von Erzeugern und Lasten, die gemeinsam eigenbedarfsorientierte Optimierungsziele verfolgt, wie es zum Beispiel bei Smart-City-Quartieren sein kann.
Damit ein Quartiersnetz Flexibilität für den stabilen Netzbetrieb der übergeordneten Netzführung bereitstellen kann, muss diese vorab in aggregierter Form verfügbar sein. In Int2Grids wird die Flexibilität mittels eines 2-Stufen Prozesses ermittelt. Zunächst wird eine lokal optimierte Lastgangprognose für das Quartiersnetz als Referenzfahrplan ermittelt. Dies geschieht mittels der voll verteilten und auf Selbstorganisation basierten Heuristik COHDA, an der sich alle Erzeuger und Verbraucher mittels entsprechender Agenten beteiligen. Auf der Basis dieses Referenzfahrplans wird das Abweichungspotential jeder Anlage ermittelt und aggregiert als Flexibilität dem Redispatch-Prozess zur Verfügung gestellt. Bei drohenden Leitungsüberlastungen kann diese Flexibilität dann (teilweise) in Anspruch genommen werden, woraufhin sich die Fahrweise der Anlagen im Quartiersnetz anpasst.
Somit wird hier eine Möglichkeit aufgezeigt, wie die Flexibilität von lokal optimierten Quartiersnetzen so in das Verbundnetz integriert werden kann, dass sowohl Optimierungsziele der Quartiersnetzaktuere als auch übergeordnete Ziele wie die Netzstabilität der Verteilnetzbetreiber erreicht werden.
Ansprechpersonen
E-Mail: benjamin.giesers(at)offis.de, Telefon: +49 441 9722-747, Raum: Flx-E
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Dezentraler Redispatch (DEER): Schnittstellen für die Flexibilitätsbereitstellung
Laufzeit: 2022 - 2025
National Research Data Infrastructure for the Interdisciplinary Energy System Research
Laufzeit: 2023 - 2028
Resilienz im digitalisierten Stromsystem: Toolbox zur Bewertung von Systemdienstleistungsmärkten
Laufzeit: 2022 - 2024
WärmewendeNordwest – Digitalisierung zur Umsetzung von Wärmewende- und Mehrwertanwendungen für Gebäude, Campus, Quartiere und Kommunen im Nordwesten
Laufzeit: 2021 - 2025Paul Hendrik Tiemann, Marvin Nebel-Wenner, Stefanie Holly, Emilie Frost and Astrid Nieße; Applied Energy; 2025
Körner, Marc-Fabian and Nolting, Lars and Heeß, Paula and Schick, Leo and Lautenschlager, Jonathan and Zwede, Till and Ehaus, Marvin and Wiedemann, Stefanie and Babel, Matthias and Radtke, Malin; 2024
Emilie Frost and Malin Radtke and Marvin Nebel-Wenner and Frauke Oest and Sanja Stark; SoftwareX; 2024
Malte Stomberg; Martin Tröschel; ACM SIGENERGY Energy Informatics Review; October / 2024
Radtke, Malin and Lehnhoff, Sebastian; European Simulation and Modelling Multiconference (ESM '24); Oktober / 2024
Sager, Jens and Schrage, Rico; Journal of Open Source Software; October / 2024
Rico Schrage and Jens Sager and Jan Philipp Hörding and Stefanie Holly; SoftwareX; 2024
Malin Radtke; ACM SIGEnergy Energy Informatics Review; Oktober / 2024
Schrage, Rico and Tiemann, Paul Hendrik and Niesse, Astrid; SIGENERGY Energy Inform. Rev.; feb / 2023
Lesnyak, Ekaterina and Belkot, Tabea and Hurka, Johannes and Hörding, Jan Philipp and Kuhlmann, Lea and Paulau, Pavel and Schnabel, Marvin and Schönfeldt, Patrik and Middelberg, Jan; Big Data and Cognitive Computing; 2023