Leitsysteme sind ein zentrales Element zur Steuerung kritischer Infrastrukturen, insbesondere von Energieversorgungssystemen. Sie sind historisch gewachsen, monolithisch und proprietär gewachsen. Aufgrund der Tatsache, dass der Markt für Leitsysteme eher klein und weitestgehend geschlossen ist, hat er sich im europäischen Raum auf eine kleine Anzahl an Herstellern bereinigt, was zu einem Vendor Lock-In führt und verhindert, dass insb. sektoren- und stakeholderübergreifende Funktionserweiterungen zeitnah implementiert werden oder gar Dritt-IT-Dienstleister in die Systeme integriert werden können. Die Marktsituation und das jahrzehntelange Fehlen von Anreizen verhindern so notwendige Innovationen in den Softwarelandschaften von Netzbetreibern. Daher sind Leitsysteme in der Regel „archaisch“ in ihrem Aussehen sowie der Handhabung und erfordern große Expertise des Bedienpersonals mit langen Qualifizierungswegen. All dies ist problematisch, aufgrund zahlreicher Herausforderungen durch die Energiewende. Die dezentrale Erzeugung durch Klein- und Kleinstanlagen auch auf niedrigeren Spannungsebenen führt zu einem enormen Komplexitätszuwachs. Hinzu kommt der steigende Bedarf nach einer Kopplung sowohl unterschiedlicher Energiesektoren als auch, damit verbunden, von IT-Systemen im Hintergrund. Diese Faktoren machen wiederum eine Hochautomatisierung und die Einführung neuer Betriebsführungsansätze, insbesondere innovative und ggf. KI-basierte Lösungen, notwendig. Entsprechend gibt es unter Netzbetreibern das Bestreben, Leitsysteme zu harmonisieren und zu koppeln, um die Effizienz zu steigern und die Möglichkeit zu eröffnen den Netzbetrieb für andere, meist kleine Netzbetreiber, zu definierten Zeiten (bspw. Nachtbetrieb) zu übernehmen. Dies erhöht jedoch ebenfalls die Komplexität für das Betriebspersonal, das bereits mit zunehmenden kritischen Netzzuständen sowie steigenden Bedrohungen durch Cyber-Angriffe konfrontiert wird.
Die historisch gewachsenen Leitsysteme stoßen nach innen sowie nach außen an ihre Grenzen. So ergeben sich aufgrund veralteter Softwaretechnologien und -konzepte natürliche Leistungsgrenzen, u.a. bzgl. Echtzeitfähigkeit, sowie der Erweiter- und Wartbarkeit. Auch beim Thema IT-Sicherheit stoßen die Leitsysteme an ihre Grenzen, da IT-Sicherheit bei der Entwicklung noch nicht im Fokus war und entsprechend umständlich realisiert werden muss. Die von den Netzbetreibern angestrebte Harmonisierung und Kopplung von Leitsystemen wird durch den Vendor Lock-In weitgehend bis vollständig unmöglich gemacht; gleiches gilt für Erweiterungen von Leitsystemen um Funktionalitäten durch Dritte. Des Weiteren steht die benötigte Expertise zur Bedienung der Leitsysteme einem Fachkräftemangel gegenüber, der durch die Verwendung veralteter Softwarekonzepte noch vergrößert wird. Heute ausgebildete Fachkräfte werden an modernen Software- und Interaktionskonzepten geschult. Entsprechend ist die Arbeit mit veralteter und in der Mensch-Maschine-Interaktion archaisch wirkender Software nicht intuitiv und am Arbeitsmarkt nicht reizvoll. Zusammenfassend lassen sich insbesondere die Herausforderungen durch die Energiewende umso schwerer mit den aktuellen, antiquierten Leitsystemen meistern.
Im Rahmen dieses Vorhabens soll als Zielbild eine echtzeitfähige, skalierbare, offene und modulare Plattform für Leitsysteme realisiert und demonstriert werden. Die Quelloffenheit und Modularität fördern dabei insbesondere die Erweiter- und Wartbarkeit durch Dritte IT- Dienstleister am Markt, sowie Forschungseinrichtungen, um Innovationen schneller umzusetzen. Eine angestrebte modulare Anpassung sowie flexible Kombinierbarkeit von Teillösungen ermöglicht u.a. eine Netzbetriebsführung über mehrere Netzebenen und Aggregationslevel hinweg, die realisiert werden muss, um die Herausforderungen der Energiewende zu meistern. Konkret soll es möglich sein, in einer hierarchischen Struktur unterlagerte Aggregationslevel, bspw. ein Niederspannungsnetz oder das unterlagerte Netz eines Stadtwerks, entweder teilautonom oder explizit entkoppelt betreiben zu können (Niederspannungscockpit) und im Bedarfsfall von zentraler Stelle die Betriebsführung übernehmen zu können.
Ein weiteres wesentliches Merkmal der angestrebten Plattform ist die Möglichkeit einer ganzheitlichen
Modellierung von (gekoppelten) Energie- und IKT-Systemen. Denn insbesondere deren
Wechselwirkungen werden für den resilienten Netzbetrieb essentiell sein. Die zunehmende Interaktion zwischen dem Leitsystem und externen Akteuren und Anlagen erfordert darüber hinaus Interoperabilität als ein zentrales Ziel, um Prozesse sowie Applikationen Dritter an das Leitsystem anknüpfen zu können. Konkret sind hierfür definierte Schnittstellen erforderlich, die die Grundlage für einen modularen Austausch und Erweiterbarkeit schaffen.
Basierend auf aktuellen Arbeiten und Infrastrukturen werden innerhalb des Projektes führende Forschungseinrichtungen aus den Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnik als auch Energietechnik ihre Kompetenzen bündeln, um die genannten Herausforderungen zu adressieren und die definierten Ziele zu erreichen. Hierbei ist ein 2-phasiger Ansatz angedacht, um zunächst die Open- Energy-Twin-Plattform, basierend auf existierenden, innovativen Teillösungen der Partner aufzubauen, zu demonstrieren und open-source zur Verfügung zu stellen, bevor mit weiteren Forschungs- und insbesondere Industriepartnern die Plattform um weitere Funktionalitäten erweitert wird, die für eine zukunftsfähige Überwachung und Steuerung von Energiesystemen benötigt werden. Konkret wird in einer ersten Projektphase, welche in diesem Antrag beschrieben wird, ein Demonstrator angestrebt, der die Machbarkeit und insbesondere die Vorteile der Plattform demonstriert. In Abgrenzung zum Stand der Technik sind dabei die Grundfunktionen der Leitwarte modular als Microservices ausgelegt. Dabei entsprechen die einzubindenden Microservices in der ersten Phase bereits bestehenden, innovativen open-source Netzbetriebsapplikationen. Das Hauptaugenmerk in dieser ersten Phase liegt somit zunächst auf der Entwicklung und erstmaligen Bereitstellung einer herstellerunabhängigen Überwachungs- und Steuerungslösung für multimodale Energiesysteme, die sowohl zentral als auch verteilt umgesetzt werden kann. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der zu konzipierenden, umzusetzenden und zu demonstrierenden Austauschbarkeit von Services (z.B. zwei unterschiedliche Services zur State Estimation), CIM-Modellen und Fernwirkprotokollen (z.B. IEC 60870-5-104 und IEC 62056 (COSEM)). Sofern die erste Phase das angestrebte Umsetzungsziel des Open Energy Twins hervorbringt, sieht das Projektkonsortium eine Folgeförderung in Form einer zweiten Phase vor. Hierfür ist bereits ein reger Austausch mit führenden Industrieunternehmen und relevanten Energienetzakteuren im Verlauf der ersten Phase vorgesehen.
Im Rahmen einer voraussichtlich nahtlos anschließenden zweiten Förderphase wird angestrebt, dass die vorgenannten Akteure aktiv zur Weiterentwicklung, Skalierung und Integration der Open Energy Twin Lösung beitragen, um den Technologie-Reifegrad rapide zu erhöhen und eine wirtschaftliche Verwertung zu realisieren.
Wesentliche technologische Aspekte, die die Plattform zukunftssicher gestalten sollen, sind dabei die Verwendung von digitalen Zwillingen und einer ereignisgetriebenen Datenstromverarbeitung. Das Konzept von digitalen Zwillingen eignet sich insofern, als dass es über, potentiell hierarchisch bzw. geschachtelte, digitale Abbilder hinausgeht und eine automatisierte Anpassung der physischen Infrastruktur auf Basis von Änderungen im digitalen Zwilling vorsieht. Abbildung und Veränderung der physischen Infrastruktur sollen dabei möglichst in Echtzeit geschehen. Diese Echtzeitfähigkeit soll im Rahmen dieses Vorhabens durch den Einsatz von Datenstromverarbeitung realisiert werden, die es ermöglicht, ereignisgetrieben Daten zu verarbeiten, zu analysieren und darzustellen. Bei allen Bestrebungen steht das Betriebspersonal im Zentrum der Entwicklungen, um der zukünftig steigenden Komplexität im Netzbetrieb gerecht zu werden. Zum einen ist hierfür eine moderne benutzerzentrierte Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI) erforderlich, die bei komplexer werdenden Prozessen unterstützt. Zum anderen sind Assistenzsysteme erforderlich, die bspw. datengetriebene Anomalieerkennung oder automatisierte Prozessoptimierung übernehmen, um das Betriebspersonal nachhaltig zu entlasten. Generell liegt der Fokus auf der bestmöglichen Unterstützung des Betriebspersonals durch entsprechende Services und Applikationen mit Assistenzfunktionen.
Standardkonforme Integration quelloffener Big Data-Lösungen in existierende Netzleitsysteme